
Notstand in der kinder- und jugendärztlichen Versorgung
Hilfeschrei der Kinderärzte:
Ausgangslage
Die Kinder- und Jugendmedizin in der Schweiz steht vor einer akuten Versorgungskrise. Es gibt immer weniger Kinderärztinnen und Kinderärzte – bei stetig wachsender Patientenzahl. Bereits heute existieren Regionen ohne pädiatrische Grundversorgung, viele Praxen mussten Aufnahmestopps verhängen, und geeignete Nachfolgerinnen und Nachfolger sind kaum zu finden. Der Nachwuchsmangel ist gravierend.
Seit Jahren warnt der Berufsverband Kinderärzte Schweiz (KIS) vor diesen folgenschweren Lücken in der Versorgung und hat wiederholt konkrete Lösungsansätze präsentiert. Dennoch finden die Warnungen und Vorschläge in Politik und Versicherungswesen bislang zu wenig Gehör.
Der zunehmende Fachkräftemangel – insbesondere bei Medizinischen Praxisassistent:innen und Psychotherapeut:innen – sowie eine überbordende Bürokratie verschärfen die Situation zusätzlich. Unter diesen Bedingungen ist es kaum mehr möglich, den medizinischen und entwicklungsbezogenen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen umfassend gerecht zu werden. Zeit für Prävention und Beratung, die zentralen Pfeiler einer nachhaltigen Pädiatrie, bleibt kaum.
Dabei leisten pädiatrische Grundversorger einen entscheidenden Beitrag: Sie können über 90 % aller Gesundheitsprobleme selbständig behandeln – und verursachen dabei nur rund 5 % der Gesamtkosten. Die Grundversorgung ist niederschwellig, effizient und trägt wesentlich dazu bei, unnötige Spitalaufenthalte und Notfallkonsultationen zu vermeiden.
Ohne sofortige und gezielte Massnahmen zur Stärkung der Kinder- und Jugendmedizin ist die langfristige Versorgung unserer jüngsten Generation ernsthaft gefährdet – mit weitreichenden Folgen für Gesundheit, Gesellschaft und Kostenentwicklung.
Wir Kinderärzte fordern deshalb
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Wir fordern eine gezielte Förderung des ärztlichen Nachwuchses durch zusätzliche Studienplätze und mehr Staatsexamenabschlüsse, eine Stärkung der Grundversorgungsmedizin an den Universitäten sowie eine Ausweitung der Praxisassistenzstellen – zentrale Forderungen der Petition 2024 von Haus- und Kinderärzte Schweiz (mfe).
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Der Beruf der Kinderärztin bzw. des Kinderarztes muss durch faire und marktgerechte Vergütung attraktiver gestaltet werden – insbesondere durch eine Anpassung der kinderärztlichen Positionen im neuen Tarifsystem Tardoc.
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Wir setzen uns zudem für eine Entlastung des Praxisalltags durch den Abbau überflüssiger Bürokratie ein.
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Des Weiteren gilt es, blockierende Hindernisse wie Lieferengpässe bei Impfstoffen und Medikamenten konsequent zu beseitigen.
Begründung
Demografie und Teilzeitarbeit
Zahlreiche Studien zeigen eine zunehmend kritische Entwicklung: Das durchschnittliche Alter von Kinderärztinnen und Kinderärzten in Praxen liegt bei rund 51 Jahren, und circa 40 % von ihnen werden in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Mit den veränderten Lebensrealitäten entscheiden sich immer mehr Fachpersonen für Teilzeitmodelle. Vor diesem Hintergrund ist eine starke Förderung des ärztlichen Nachwuchses unabdingbar – nur so kann sich eine Entspannung der Versorgungslage frühestens ab 2040 abzeichnen.
Faire Entlöhnung – veraltetes und nicht kostendeckendes Tarifsystem
Seit Einführung des ambulanten Tarifsystems Tarmed vor über zwei Jahrzehnten wurden die kinderärztlichen Tarife trotz steigender Kosten und fortlaufender Teuerung nicht angepasst. Infolge von stark gestiegenen Praxisflächenmieten und Personalaufwendungen ist kostendeckendes Arbeiten in vielen Fällen kaum mehr möglich. Neuerdings können existenzbedrohende Rückforderungen von Inkonvenienzpauschalen (Stand Juni 2024) hinzukommen, und es herrscht seit über sechs Monaten große Unsicherheit darüber, wie Notfallleistungen bei jungen Patientinnen und Patienten korrekt abzurechnen sind.
Bereits Ende 2022 war nur rund 36 % der Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung tätig – ein Anteil, der deutlich unter dem Niveau liegt, das in Ländern mit stabil funktionierender Grundversorgung als erforderlich gilt (beispielsweise etwa 60 %).
Unnötige Bürokratie
In den letzten Jahren ist der bürokratische Aufwand in kinder- und jugendmedizinischen Praxen drastisch gestiegen. Unverhältnismäßige Berichtsanfragen von IV-Stellen und Krankenkassen binden erhebliche Zeitressourcen. Auch Arbeitsunfähigkeitszeugnisse werden bei kranken Kindern zunehmend bereits am ersten Tag gefordert, bis hinunter zur Kindergartenstufe.
Die Umsetzung des neuen Datenschutzgesetzes bringt zusätzliche zeitliche Anforderungen, und traditionelle Qualitätskontrollen (z. B. Ringversuche, doppelte Kontrollen über Qualab) erhöhen den Dokumentationsaufwand weiter. Selbstständige Ärztinnen und Ärzte sehen sich zudem verpflichtet, eine wachsende Anzahl ausführlicher Studien auszufüllen, und die Anforderungen der Heilmittelkontrolle zur Führung einer Praxisapotheke sind nur unter erheblichem Zeitaufwand erfüllbar.
Impf- und Medikamentenlieferengpässe
In der Schweiz treten im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten wiederholt Verknappungen bei Impfstoffen und Arzneimitteln auf. Das verschiebt Impftermine, erfordert umständliche Kommunikation mit Eltern und bindet Ressourcen in der Suche nach Alternativpräparaten und Abstimmung mit Apotheken.
Fazit
Ohne entschlossenes politisches und versicherungspolitisches Handeln droht eine gravierende Verschlechterung der kinder- und jugendärztlichen Grundversorgung – die Versorgungslücke wird mit jedem Jahr wachsen. Nur durch gerechte Vergütung, Abbau bürokratischer Hürden und gezielte Nachwuchsförderung lässt sich der Rückgang kompensieren. Wir müssen jetzt gestalten, um die medizinische Zukunft unserer Kinder zu sichern.